Das Virus befällt den Menschen, aber auch und vor allem: Der Geist des Menschen ist selbst ein Virus

Ausgerechnet Hegel hilft uns, unsere verrückte Zeit zu verstehen. Nur muss man dann auch den deutschen Philosophen neu lesen. Eine kleine Anleitung.

Slavoj Žižek
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Ja, dieser Herr hat uns gerade heute noch etwas zu sagen: Georg Friedrich Wilhelm Hegel 1828 in einer Lithographie von Julius Ludwig Sebbers.

Ja, dieser Herr hat uns gerade heute noch etwas zu sagen: Georg Friedrich Wilhelm Hegel 1828 in einer Lithographie von Julius Ludwig Sebbers.

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Die Philosophie kommt immer zu spät. Das schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Vorrede zu den «Grundlinien der Philosophie des Rechts».

Ich zitiere in extenso, es ist eine wunderbare Passage: «Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.»

Hegel kam am 27. August 1770 in Stuttgart zur Welt – vor genau 250 Jahren. Und wenn stimmt, was er schreibt, so muss auch Hegels Philosophie Staub angesetzt haben. Aber heisst das nun, dass sie nur aus ihrer Zeit zu verstehen und also nur von historischem Interesse sei? Es verhält sich genau umgekehrt: Gerade weil Hegels Denken aus der Zeit gefallen ist, liefert es ein paar nützliche Sehhilfen für unsere Zeit.

Einheit der Gegensätze

Als Hegels Grundoperation gilt gemeinhin die Aufhebung des Negativen, sozusagen das Happy End im Hollywood-Stil. These, Antithese, Synthese, Aufhebung, Versöhnung. Oder wie es in der bereits erwähnten Vorrede so schön heisst: «Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.»

Das klingt einfach, ist aber ein schwieriger Gedanke. Denn es ist im Falle Hegels gerade nicht so, dass ein Ereignis, wie schrecklich es auch sein mag, sich am Ende als untergeordneter Moment herausstellt, der zur alles übergreifenden Harmonie beiträgt. Das Hauptmerkmal seines dialektischen Denkens besteht vielmehr darin, dass eine Idee oder ein Projekt, egal wie gut geplant oder gemeint, garantiert eine falsche Wendung nehmen wird: Die organische griechische Gemeinschaft einer Polis geht in einen Bruderkrieg über, die auf Ehre gegründete mittelalterliche Treue verwandelt sich in leere Schmeichelei, das revolutionäre Streben nach universeller Freiheit wird zum Terror.

Hegels Pointe ist dabei nicht, dass diese schlimme Wendung hätte vermieden werden können (wenn beispielsweise die französischen Revolutionäre sich einfach darauf beschränkt hätten, die konkrete Freiheit einer organischen sozialen Ordnung der Stände und nicht die abstrakte freiheitliche Gleichheit aller zu verwirklichen, hätte das Blutvergiessen verhindert werden können). Wir müssen im Gegenteil akzeptieren, dass es keinen direkten Weg zu konkreter Freiheit gibt; die Versöhnung liegt einfach darin, dass wir uns mit der permanenten Gefahr der Zerstörung abfinden, die eine positive Voraussetzung unserer Freiheit ist. Hegel sieht im Staat eine hierarchische Ständeordnung, die durch die permanente Gefahr des Krieges moralisch zusammengehalten wird.

Was also, wenn wir uns einen Fortschritt vorstellen, der weiter geht – über eine posthegelianische, parlamentarische liberale Demokratie hinaus? Man kann sich leicht das Vergnügen vorstellen, mit dem Hegel die immanente Logik analysiert hätte, durch die eine liberale Gesellschaft zum Faschismus führt oder durch die ein radikal emanzipatorisches Projekt im Stalinismus endet. Was uns wie ein Gegensatz erscheint, ist gar kein Gegensatz, sondern die andere Seite derselben Ordnung: Das zu begreifen, ist heute die Aufgabe für uns Hegelianer.

Unsere verrückte Gegenwart

Wie verhält es sich dann mit Covid-19 aus hegelianischer Sicht? Können wir uns vorstellen, wie sich die Pandemie in Hegels Augen dargestellt hätte? Die automatische Reaktion der meisten Philosophen liegt auf der Hand: Natürlich nicht – denn Hegel ist ein absoluter Idealist, dessen Prämisse lautet, dass auch in der Natur überall Vernunft herrscht. Demnach ist die Vorstellung, dass eine Naturkatastrophe wie ein Asteroid oder ein Virus eine Gefahr für die Menschheit darstellen könnte, innerhalb seines Horizontes nicht denkbar. Doch weit gefehlt! Denn wie eben gesehen, sind verrückte, unerwartete Wendungen geradezu der Wesenskern von Hegels Denken.

Erst mit der gegenwärtigen Sars-CoV-2-Pandemie vermögen wir wirklich zu schätzen, was Hegel meinte, als er von der Einheit der Gegensätze sprach. Was ist ein Virus? Nun, Viren sind – gemäss einer verbreiteten Definition – alle möglichen ansteckenden, gewöhnlich mikroskopisch kleinen Erreger, die aus Nukleinsäuren in einer Proteinhülle bestehen (entweder DNS oder RNS). Sie infizieren Tiere, Pflanzen und Bakterien und pflanzen sich ausschliesslich in lebenden Zellen fort. Viren gelten dabei je nachdem als nicht lebendige chemische Entitäten oder gelegentlich als lebende Organismen.

Diese Oszillation zwischen lebendig und tot ist entscheidend. Im Sinne der gewöhnlichen Bedeutung dieser Worte sind Viren weder lebendig noch tot; sie sind eine Art von lebenden Toten – ein Virus lebt dank seinem Drang, sich fortzupflanzen, doch dabei handelt es sich um eine Art Leben auf Ebene null, eine biologische Karikatur auf dem elementarsten Niveau von Fortpflanzung und Vermehrung. Dabei sind Viren nicht die Lebensform, aus der höher entwickelte Formen hervorgegangen sind; sie sind reine Parasiten und pflanzen sich fort, indem sie höher entwickelte Organismen infizieren (wenn wir durch ein Virus infiziert werden, dienen wir einfach als Kopiereinrichtung). Insofern sind sie selbst eine Einheit der Gegensätze: Das Elementare und das Parasitäre fallen in ihnen zusammen.

Doch greifen uns Viren nicht nur auf unserer physiologischen Ebene an. Gehen wir also noch einen Schritt weiter. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins behauptete schon 1976, Meme – also Ideen, Überzeugungen, Verhaltensmuster – seien Viren des Geistes, parasitäre Entitäten, welche die Macht des Menschen kolonisierten und sie als Mittel zur eigenen Vermehrung nutzten. Wir treffen hier auf eine Anthropologie, die uns einen neuen Blick auf den Menschen erlaubt: Das menschliche Subjekt ist demnach ein passives leeres Medium, das ständig von kulturellen Elementen infiziert wird, die sich in Windeseile zwischen Individuen ausbreiten. Der Mensch ist qua Geist tatsächlich immer schon ein Virenträger – anders wäre die moderne Massengesellschaft überhaupt nicht denkbar.

Dawkins hat wohl recht, aber denkt er radikal genug? Aus hegelscher Perspektive sollten wir hier nochmals einen Schritt weiter gehen, im Sinne der Identität des Höchsten und des Niedrigsten. Hegels bekanntestes Beispiel ist «Der Geist ist ein Knochen» aus seiner Analyse der Phrenologie in der «Phänomenologie des Geistes», und unser Beispiel sollte «Der Geist ist ein Virus» lauten.

Überall diese Viren

Denn ist nicht der menschliche Geist als solcher eine Art Virus, das als Parasit im Menschentier lebt, dessen Organismus für die eigene Fortpflanzung nutzt und es manchmal zu vernichten droht? Ist nicht das, was den Menschen zum Menschen macht und ihn zum Überleben befähigt, zugleich das, was ihn in seinem Innersten – und von innen her – bedroht? Ist nicht, wenn der Mensch eines Tages sich auslöscht, der Geist daran schuld (weil er Atombomben, künstliche Intelligenz oder künstliche tödliche Viren erschaffen hat)?

Wer die Welt durch Hegels Linsen betrachtet, trifft auf einen weiteren Parasiten: das von Menschen geschaffene Kapital, das sich selbst reproduziert, auf dem ganzen Globus zirkuliert und hierfür auf den menschlichen Geist angewiesen ist, ja ihn eigentlich benutzt, ohne doch insgesamt auf menschliche Schicksale Rücksicht zu nehmen. Das Kapital ist eine virtuelle Einheit, die es nicht unabhängig von uns gibt – es gibt sie nur, solange und insoweit wir an ihr teilhaben. Sie verfügt also über eine gespenstische Wesensart: Wenn wir aufhören, so zu tun, als würde das Kapital existieren, hört es tatsächlich auf zu existieren.

Das wiederum unterscheidet das Virus des Kapitals von Sars-CoV-2 – das kleine Ding existiert auch dann, wenn wir nicht mehr an es glauben. Dennoch ist die Corona-Epidemie nicht bloss ein biologisches Phänomen, das Menschen heimsucht. Wer dessen Wirksamkeit verstehen will, muss zugleich die menschliche Kultur (Essgewohnheiten), ökonomische Kreisläufe und den globalen Handel verstehen, das dichte Netzwerk internationaler Beziehungen, ideologische Mechanismen der Verbreitung von Angst und Panik.

Ich schliesse also mit einem hegelianischen Willkommensgruss für unsere seltsamen Zeiten, in denen das Höchste und das Niedrigste durcheinandergeraten. Alle grossen Kämpfe heute sind Kämpfe mit einem Virus. Sars-CoV-2 breitet sich dank dem menschlichen Geist aus, der Nachrichten über das Virus konsumiert, und dieser Geist ist selbst ein gefährliches Virus, das seinerseits das Virus des Kapitals generiert hat, ohne das wiederum Sars-CoV-2 nicht so zirkulieren würde, wie es dies tatsächlich tut. Denn es ist heute undenkbar geworden, dass Menschen sich nicht mehr bewegen – wenn sie es tun, setzen sie ihre finanzielle Existenz aufs Spiel, ohne jemals mit dem Coronavirus in Kontakt zu kommen.

Ja, keine Frage, unser Jahrhundert ist bereits ein hegelianisches.

Slavoj Žižek ist Philosoph und einer der besten Hegel-Kenner der Gegenwart. Jüngst ist von ihm das Buch «Hegel. Im verdrahteten Gehirn» (Fischer-Verlag 2020) erschienen. Der obenstehende Beitrag wurde von Helmut Reuter und René Scheu aus dem Englischen übersetzt.